Schon als kleines Mädchen haben mich Ruinen fasziniert. So sehr, dass ich selbst das Wort Ruine so schön fand, dass ich am liebsten Ruine geheissen hätte. Meine Eltern waren gegen eine Umbenennung und fanden auch das Erkunden von verfallenen Gebäuden zu gefährlich. Als rechtschaffende Erwachsene respektiere ich die in Europa an alten unbewohnten Gebäuden so oft angebrachten Schildern mit den Hinweisen „Betreten verboten“, „Privatgrund“, „Eltern haften für ihre Kinder“ oder „Zutritt für Unbefugte verboten“. Somit konnte ich meine kindlichen Entdeckungsfantasien nie wirklich befriedigen. Bis heute. Denn in der ehemaligen Sowjet-Kur-Stadt Tskaltubo konnte ich mich endlich ausleben.

In Tskaltubo stehen unzählige dem Verfall preisgegebene alte Sowjet-Gebäude, die von der Natur nach und nach zurückerobert werden.

Warum ich als Mädchen Ruine heißen wollte und was das alles mit Georgien zu tun hat

Reisebericht aus Georgien von Daniela Luschin-Wangail

Als wir gestern am Abend nach Tskaltubo kamen war es bereits dunkel und das Besondere der Stadt in der westgeorgischen Region Imeretien blieb uns noch verborgen. Wir durften in einem der rund 20 Sanatorien nächtigen, die vorwiegend zwischen 1933 und 1955 im Stil des sozialistischen Klassizismus mit aufwändigen Kapitellen und opulenten Ornamenten errichtet wurden. Ganz nach dem Geschmack von Josef Stalin, der hier zumindest einmal selbst zur Kur gewesen sein soll. Jedes Sanatorium war einer gewissen Berufsgruppe zugeordnet und jene, die sich besonders am Aufbau der Sowjetunion beteiligt hatten, durften hier in den Heil- und Thermalbädern wieder zu Kräften kommen. Es gab Sanatorien für brave Beamte, angesehene Politiker, fleissige Minenarbeiter, Ärzte und eines sogar für Mitarbeiter des KGB. Von Moskau aus gab es eine direkte Zugverbindung in die Kurstadt Tskaltubo, deren Thermalwasser leicht radioaktiv und gerade deswegen heilsam sein sollen. Heute es gibt es diese nicht mehr. Und auch die meisten Sanatorien sind seit dem Zerfall der Sowjetunion am Bröckeln und einige vollkommen ungenutzt. Das ist dem wir nächtigen durften ist eines der wenigen, die in ein Hotel umfunktioniert wurde.

Noch nicht restaurierter Teil des Hotels, in dem wir genächtigt haben

Beschilderung aus alten Sowjet-Tagen. Sogar auf englisch!

Der schönere restaurierte Teil des Hotels

Nach dem Frühstück im großzügig angelegten Restaurant mit noch immer sehr an russischen Essenswünschen angelegtem Menüplan ging es los die Stadt zu entdecken und endlich, endlich meine Mädchenträume vollends auszuleben. Denn im Gegensatz zum brav geordneten Mitteleuropa darf hier alles betreten werden, was nicht privat ist. Und die meisten der ehemaligen Kurgebäude sind noch immer in staatlichem Besitz. Wir besuchen drei alte verfallene Sanatorien – das ehemalige Sanatorium für Minenarbeiter, das für Mitarbeiter des KGB und eines dessen ursprüngliche Zuordnung wir nicht kennen – als auch eine Bäderanstalt mit Thermalquellen.

Während die von uns besuchten Gebäude nur noch aus ihrer Fassade bestehen, dessen Fenster und Türen größtenteils brutal ausgestemmt wurden, deren Parkettböden, Fliesen und natürlich sämtliches Interieur verschwunden sind, fungieren die meisten einstigen Santorien noch heute als Zufluchtsstätten von Flüchtlingen aus Abchasien, die 1993 während des Kriegs zwischen der abtrünnigen Region Abchasien und Georgien flüchten mussen. Insgesamt sahen sich 200.000 ethnische Georgier gezwungen ihre Heimat zu verlassen. 18.000 fanden eine neue Heimat in den anno dazumals luxuriösen Erholungsheimen in Tskaltubo, die es heute ganz und gar nicht mehr sind. Die meisten Fenster sind zerbrochen, große Risse ziehen sich über die Mauern, die Lebensqualität ist offensichtlich niedrigst und es bröckelt gehörig am einstigen Glanz. Rund 6.000 Georgier aus Abchasien leben noch heute in den Sanatorien und anderen Gebäuden der Stadt, die anderen sind in andere Regionen, vorwiegend in die Städte Batumi, Poti und Tbilisi abgewandert.

In den leerstehenden Kurhotels und Badeanstalten lösen sich ornamentreiche und bunte Tapeten von den Wänden, Stuckarbeiten rieseln von den Decken, Böden reissen auf, die letzten verbliebenen Fliesen hängen nur noch müde und hoffnungslos rum und die Natur hat ihre Soldaten – Moos, Efeu und andere Pflanzen – logeschickt sich den Raum wieder zurückzuerobern. Nur Graffitis und leere Bierflaschen sind Zeugen dafür, dass sich doch noch hie und da Menschen hierher verirren.

Was mich so an alten dahinsiechenden und langsam in sich zusammenfallenden Gebäuden fasziniert

Ich mag die uns Westeuropäern in unserem Ordnungswahn so verloren gegangene Akzeptanz, dass Dinge entstehen, werden und auch wieder vergehen. Wir wischen alles weg, was dem Verfall preisgegeben ist, weil es uns unangenehm an unsere eigene Vergänglichkeit erinnert. Was alt ist, muss repariert werden und wenn es nicht repariert werden kann, machen wir es dem Erdboben gleich. Der sich modern rufende Mensch wehrt sich gegen den natürlichsten Zyklus der Natur. Alles vergeht und nur wenn etwas vergeht, kann auch wieder Neues entstehen. Es ist der Kreislauf jeden Lebens, ein Festklammern und Betrauern oder Wegwischen und Negieren macht da nicht wirklich Sinn. Und so finde ich sollte auch das Alte, nicht mehr Schöne, das Vergehende nebem dem Jungen, Progressiven, in vollem Glanz Stehende sein und eine Berechtigung haben dürfen.

Dass Altes, nicht mehr so recht funktionieren Wollendes nicht auch schön sein kann, traue ich mich hier zu widerlegen. Man muss nur etwas genauer hinsehen, gewohnte, geradlinige, medial gelenkte Richtlinien auf die Seite schieben und mit einem unvoreigenommenen Blick auf die Dinge schauen, dann lässt sich auch im Verfall eine wunderbare und rührende Schönheit entdecken.

Mit großen Augen und offenem Mund bin ich wieder das Mädchen von damals, das so gern wissen wollte, wie es hinter dem alten Gemäuer nahezu verfallener Gebäude aussieht.

Schon jetzt ist an manchen Stellen kaum noch etwas vom sozialistischen Urlaubsprunk zu erkennen. Ich versuche angestrengt mir vorzustellen, wie hier vor 40, 50, 60 oder mehr Jahren russische Gäste in Erwartung eines heißen Bades die Treppen hinauf gelaufen sind. Schon bald werden der Efeu und das Moos diesen Ort aufgefressen haben.

Der Zustand der Häuser lässt Investoren offensichtlich davor zurückscheuen, die vom Staat zum Verkauf stehenden Immobilien zu erwerben. Nur die wenigsten sind bis jetzt verkauft worden.

Anstatt die Pools zu füllen macht sich das Wasser zusehends an den Wänden bemerkbar.

In Gängen wie diesem wird meine morbide Liebheit zur Schönheit des Verfalls endlich erwidert.

Da und dort kann man sich noch um einiges besser vorstellen, wie luxuriös es hier noch vor wenigen Jahrzehnten gewesen sein mag.

Jugendliche und im Sommer unzählige Schlangen finden hier noch gelegentlich Unterschlupf.

Allen leerstehenden Sanatorien gemeinsam: Sie sind wirklich leer. Kein Nagel, kein Stück Holz, nichts ist hier hinterlassen worden. Alles was nur irgendwie zu gebrauchen war wurde verscherbelt oder anderweitig verwendet.

Der Grundriss und die klassizistischen Säulen lassen vermuten, dass hier wohl das Restaurant war und man fein dinierte.

… und manche Ecken sind so gruselig, dass man jeden Moment erwartet, ein Ungetüm rase aus einer Ecke auf dich zu.

Das einstige Kurhaus verdienstvoller KGB-Mitarbeiter

Das Mädchen, das einst Ruine heißen wollte, durfte in einem Tag mehr Ruinen erkunden als in ihrem ganzen bisherigen Leben zusammen. Das hat sie Georgien zu verdanken, das zwar die meist unglückliche Zeit als Teil der Sowjetunion lieber vergessen würde, es aber nicht schafft die Spuren der Erinnungen daran von heute auf morgen verschwinden zu lassen und darauf hofft, dass sie irgendwann von allein von der Erde verschluckt werden. So hab ich sie aufsaugen dürfen, die einst opulente, sozialistisch glänzende, nunmehr modrig riechende, dahin siechende Atmosphäre diesen speziellen Ortes, der so viele Geschichten zu erzählen weiß.

 

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